//Vorsicht, die Realität kommt euch eines Tages entgegen!
„Die Kommunikation rund um den Fall von Soledar ist ein Beispiel für die schreckliche Mischung aus Informationskrieg und blinden Ressentiments Russland gegenüber.” #moszkvater

Vorsicht, die Realität kommt euch eines Tages entgegen!

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Es ist für den westlichen Mainstream schwer zu verdauen, dass russische Truppen Soledar eingenommen haben. Diejenigen, die den Krieg in der Ukraine zu einem Teil ihrer Identität gemacht haben, die sich dem Krieg aus rein emotionalen Gründen nähern, sind schockiert über den Fall der kleinen Stadt in der Ostukraine und versuchen Erklärungen zu finden, indem sie die Realität verbiegen. Andere werden von wohlüberlegten Interessen geleitet, die Wirklichkeit zu verzerren, denn zum Krieg gehört es, die Erfolge des Feindes zu schmälern. Die Folge dieser Faktoren ist ein deprimierendes Ergebnis. Wieder einmal ist der Informationskrieg in vollem Gange, und wieder einmal können wir feststellen, dass die Wahrheit zu den ersten Opfern des Krieges gehört.

„Die Kommunikation rund um den Fall von Soledar ist ein Beispiel für die schreckliche Mischung aus Informationskrieg und blinden Ressentiments Russland gegenüber.” #moszkvater
„Die Kommunikation rund um den Fall von Soledar ist ein Beispiel für die schreckliche Mischung aus Informationskrieg und blinden Ressentiments Russland gegenüber.”
Foto: EUROPRESS/Diego Herrera Carcedo/ANADOLU AGENCY/AFP

Ich schaue mir die verschiedenen Fernsehkanäle an, ich lese, ich beobachte die Medien, ich spreche mit Menschen und schüttle nur den Kopf. Ich habe mich an die Tatsache gewöhnt, dass das Thema Krieg zu einer Art neuem Reflex geworden und Teil der Identitätspolitik ist. Während eine Seite, die eine gewisse Überlegenheit ausstrahlt, es als Teil des kulturellen Wesens ansieht, niederzuknien, die ukrainische Flagge zu hissen und, in diese Rolle hineinlebend, unwillkürlich eine Träne vergießt, kniet die andere Seite – streitlustig und trotzig – nicht nieder und lässt, vom Pferd gefallen, oft sogar dieses zweifellos ärgerliche Verhalten verbal an dem Opfer aus. Und es ist nicht schön, wenn die ukrainische Führung mit ihren Äußerungen und ihrem Verhalten, gelinde gesagt, die Welt spaltet. Aber sie sind ja angegriffen worden, auch wenn sie und ihre westlichen Beschützer und Anstifter viel dazu beigetragen haben, dass die Situation so weit gekommen ist. Aber auch das kann nicht zur Verteidigung von Politikern, Analysten, Journalisten und einfachen Menschen dienen, die über Nacht zu Möchte-gern-Ukrainern geworden sind. Hinter ihren blauen und gelben Fahnen verbergen sich oft Vorurteile, antirussische Gefühle, oder gar Russophobie. Und wie wir wissen, ist Hass nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern auch ein außerordentliches Hindernis für Klarheit.

„Ich habe oft das Gefühl, ein Geisterfahrer auf der Autobahn zu sein!  Andererseits versuche ich, die Fakten und das Gesamtbild zu verstehen, und ich bin überzeugt, dass der Fehler nicht bei mir liegt”

Denn wenn ich den Mainstream im Westen höre, inklusive der atlantisch-liberal Eingestellten in Ungarn – stelle ich fest, dass es hier nicht auf ideologische Ausrichtung ankommt, sondern auf eine Art Haltung dieser Leute, die das Thema zu einem Teil ihrer Identität machen – ähnlich der Attitude eines Schlachtenbummlers. Wenn ich die Mainstream Medien höre, würde ich hier in Ungarn zu Recht schlussfolgern, dass die ukrainischen Truppen nicht mehr unter Moskau, sondern zumindest im Ural stehen, dass Russland zerfällt, dass sich die Elite und die Gesellschaft gegen den Kreml aufgelehnt haben und dass Putin überhaupt froh sein kann, nicht mehr unter dem Lebenden zu weilen. In der Zwischenzeit verteidigt das Bollwerk der Demokratie, d.h. die Ukraine Europa gegen die rüden asiatischen Horden, und wir müssen nur noch ein wenig länger durchhalten, dann wird uns der Sieg sicher. Ich werde nicht weitermachen, sonst werden Sie mir noch glauben. Ohnehin leben viele Menschen in diesem Stumpfsinn; in einer Hülle moralischer Überlegenheit und glauben, dass die Welt nur wegen der russischen Aggression leidet – ansonsten sei alles in Ordnung.

„Die Kommunikation rund um den Fall von Soledar ist ein Beispiel für die schreckliche Mischung aus blinder Russophobie und Informationskriegsführung”

Manche Menschen erkennen nicht einmal an, dass die Stadt gefallen ist. Sie glauben nicht einmal dem ukrainischen Präsidentenberater Oleksij Arestowitsch, der vor Tagen sagte, ihre Truppen seien auf der Flucht. Das gilt auch für die Soldaten, die von der Front berichten und Bankova verfluchen (Hier befindet sich das Präsidialamt der Ukraine), weil der Präsident sie in einer aussichtslosen Situation angesichts der „Musiker” der Wagner-Truppe (die mit Granatenregen komponieren), erfrieren ließ.

In der Tat mag Prigozhin in seinem Drang, die Lorbeeren zu ernten, mit seiner Ankündigung etwas voreilig gewesen sein, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es sinnlos ist, sich verzweifelt an die Nachhut zu klammern und auf ein Wunder zu hoffen, nämlich, dass das Unvermeidliche nicht eintritt. Aber es geschah bereits. Die Aufmerksamkeit liegt nun auf Bakhmut/Artyomovsk, und auch hier steht viel auf dem Spiel: die Eroberung dieses wichtigen Knotenpunkts durch die Russen würde den Beginn der letzten, blutigsten Schlacht um die Kontrolle des gesamten Donbass bedeuten.

„Es ist interessant, dass die russische Kriegspartei in einem ähnlichen Fall begann – dem rasanten Rückzug von der Charkiw-Front und der organisierten Evakuierung von Herson, ihre eigene Führung und ihre Generäle zu kreuzigen und die Realität nicht rosa, sondern eher dunkel zu malen”

Andere haben stillschweigend akzeptiert, dass Soledar gefallen ist, und versuchen, die Wichtigkeit dieser ukrainischen Niederlage kleinzureden, indem sie die Wichtigkeit der Stadt mindern, die Bedeutung der Ereignisse herunterspielen und/oder diese Propaganda nutzen, um die Begeisterung aufrechtzuerhalten. „Dies ist eine kleine Stadt mit 10.000 Einwohnern, mehr nicht”, sagen sie, tun so, als seien sie ruhig, und zählen die Verteidigungslinien auf, die sich noch im Westen und Süden befinden.

Dazu fügen sie als unwiderlegbares Argument hinzu, dass die russische Propaganda, die seit sechs Monaten keine Siege mehr errungen hat und vergessen dabei, dass der Fall von Soledar dadurch nur noch bedeutsamer wird. Daraufhin fragen viele zu Recht: Wenn es keine Bedeutung hat, warum schlagen dann alle atlantischen Medien Alarm? Warum wird in Kiew darüber gelogen? Dass es ein großes Problem gibt, zeigt die forcierte, ja verzweifelte ukrainische Kommunikation der letzten Tage mit ihrer wachsenden Zahl von Fake News. Wir könnten uns auch fragen, warum Soledar vor einem Monat noch eine Schlüsselposition in denselben Kreisen einnahm? Oder warum die ukrainische Armee sie fast bis zum letzten Soldaten verteidigt hat, wobei sie allein in dieser Schlacht etwa 10.000 Kämpfer verloren hat, und wir haben noch nicht einmal die Verwundeten und Krüppel erwähnt, deren Zahl etwa 15.000 beträgt. Lassen wir den Zahlenkrieg um die Verluste beiseite, das ist eine eigene Predigt wert!

„Wir sollten akzeptieren, dass der Besitz von Soledar strategisch sehr wichtig ist. Und zwar wegen des noch wichtigeren Stützpunktes von Bahmut/Artyomovsk, der von Soledar etwa 15 Kilometer ist. Die Eroberung dessen würde eine weitere Nachschublinie der ukrainischen Armee zu unterbrechen und ermöglichen, die letzte Bastion Bahmut, vor der Linie Kramatorsk-Slawjansk, von Norden her einzukesseln. Diese letzte „Festung“ zu durchbrechen, könnte bedeuten, die ukrainische Armee zu zerschlagen, und wir wissen, was das bedeutet”

Viele von denen, die jetzt versuchen, die Bedeutung des Verlustes von Soledar herunterzuspielen, wissen das. In ihren Kreisen heißt es, dass diese Stadt erobert wurde, aber für welchen Preis!? Die Stadt liege ja in Trümmern. Ist diese Befreiung der russische Weg? Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Lesart in Widerspruch zu der auch in diesen Kreisen geäußerten Ansicht steht, dass die Zahl der ukrainischen Opfer geringfügig sei – die Verluste auf russischen Seite seien wesentlich höher gewesen. Außerdem vergessen sie, dass momentan Krieg herrscht! In allen Kriegen werden Festungsanlagen, und Siedlungen, die zu Festungsstädten ausgebaut wurden, zerstört. Siehe zum Beispiel die Schlacht von Monte Cassino oder die Belagerung von Budapest. Deshalb ist Frieden stets besser als Krieg! Wir haben jetzt Krieg, und Krieg ist hässlich. Hier gibt es keine guten Jungs. Es gibt nur Opfer und Überlebende. Leider!

„Aber der Krieg wird auch von einem enormen Informationsrauschen begleitet, wie dem aktuellen, das bewusst die Geschehnisse verschleiert, manipuliert und verwirrt”

Ein Teil davon ist das Narrativ über Putin, das vor allem vom britischen Geheimdienst verbreitet wird. Es wird angedeutet, dass der russische Präsident vor Gericht gestellt werde, aber wenn nicht, solle er im eigenen Land gestürzt werden. Wenn nicht, werde er bestimmt von den etwa 40 unheilbaren Krankheiten dahingerafft, die ihm von „zuverlässigen Quellen” bereits zugeschrieben würden. Die Umstrukturierung der Armee zur Steigerung ihrer Effizienz, die Übertragung der „besonderen militärischen Operation” in die Verantwortung des Generalstabschefs Gerasimow, wird zu Unrecht in diese Kategorie eingeordnet. Man könnte sagen, dass die Operation unausgesprochen von einem Sondereinsatz zu einem Krieg hochgestuft wurde. Seriöse Experten sind jedoch auch der Meinung, dass Russland in der Ukraine keine Konfrontation mit dem Westen suche. Dann, einen Satz später, heißt es, dass 53 Länder Kiew mit Waffen, Geheimdienstinformationen und Milliarden von Dollar unterstützten. Und was dann? Die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, von der wundersamen Erwartung westlicher Waffenlieferungen, oder besser gesagt, deren Andeutung, bis hin zur angeblichen Erschöpfung der russischen Bestände. Das Ergebnis ist, dass das westliche Bild von Russland und dem Krieg in der Ukraine sich immer weiter von der Realität entfernt.

Ich weiß nicht, wie lange die Leute getäuscht werden können! Jeder nüchterne Mensch könnte diese Propaganda durchschauen. Die anderen, die sich in dieser stark russophoben Blase der moralischen Überlegenheit wohlfühlen, werden in ihrem Irrglauben gestärkt. Und dann sind sie überrascht, wenn sie von der Realität überrumpelt werden.

(Übersetzung: Sándor Nagy)

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Gabor Stier wurde 1961 geboren und ist ein außenpolitischer Journalist, Analyst und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei den Wochenzeitschriften Demokrata und Magyar Hang sowie Gründungs-Chefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal über die slawischen Völker im Allgemeinen und die Länder der ehemaligen Sowjetunion im Speziellen. Davor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, von 2000 bis 2017 als Leiter des außenpolitischen Ressorts. Er war der letzte Moskau-Korrespondent der Zeitung. Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Er schreibt regelmäßig für außenpolitische Fachzeitschriften, und seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse. Er ist Autor des Werkes Das Putin-Rätsel (2000) und seit 2009 ständiges Mitglied des Valdai-Clubs. Er ist außerordentlicher Professor für Kommunikation an der Metropolitan University. Mitglied des Vorstands der Tolstoi-Gesellschaft für ungarisch-russische Zusammenarbeit.