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Was steht bei Viktor Orbáns Balanceakt auf dem Spiel? Ist es womöglich sogar vorstellbar, dass Ungarn bei der Beendigung des Krieges vermittelt?
Es ist kein Zufall, dass der westliche Mainstream bereits befürchtete, der ungarische Ratsvorsitz würde den Anforderungen der Europäischen Union (EU) nicht gerecht. Es gab welche, die Viktor Orbán unter Hinweis auf die Mängel der ungarischen Demokratie die Chance genommen hätten, aber letztlich wollte und konnte Brüssel diesen groben Schritt nicht zulassen. Er hätte Folgen gehabt, die den demokratischen Charakter der EU endgültig in Frage gestellt hätten.
Dennoch hat der gesamte westliche Block, angeführt von den Vereinigten Staaten, alles in seiner Macht Stehende getan, um das aus der Reihe tanzende Ungarn, das sich mit seinen unabhängigen Vorstellungen zu weit aus dem Fenster lehnte, wieder zu zügeln. Nicht unbedingt wegen der rotierenden EU-Ratspräsidentschaft, sondern weil er genug hatte von dieser Souveränität, die in vielen Fällen bereits die Interessen der großen Akteure verletzte.
Doch auch Orbán hatte das Gefühl, dass er an die Grenzen gestoßen war und dass ein weiteres Überschreiten der Grenzen kontraproduktiv wäre und den Handlungsspielraum Ungarns tatsächlich einschränken würde. Und er mag auch gedacht haben, dass es notwendig sei, den Weg für die rotierende EU-Ratspräsidentschaft auf Kosten von Kompromissen freizumachen. Sei es nur, weil diese im Wesentlichen technische und formale Position denjenigen, die mutig sind und keine Angst vor ihrem eigenen Schatten haben, ernsthafte Möglichkeiten bietet, die Grenzen zu überschreiten.
So sahen einige mit Genugtuung, andere wiederum besorgt und mürrisch zu, wie Orbán einen Pakt mit dem munter mitspielenden NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg schloss, scheinbar seine frühere Kampflust aufgab und auf sein Veto in Bezug auf die Ukraine verzichtete. Im Gegenzug erhielt er Garantien, dass Ungarn sich nicht an den externen Aktionen der NATO beteiligen muss und nicht verpflichtet ist, die Ukraine mit Geld oder Waffen zu unterstützen. Dies ist jedoch bereits im Statut der Organisation verankert, sodass es nicht wie ein wirkliches Zugeständnis aussah.
Dann war Ungarn – wenn auch nur auf Außenministerebene – nicht nur auf dem Schweizer Friedensgipfel vertreten, sondern hat auch dessen Abschlusserklärung unterzeichnet. Darüber hinaus wurde Budapest in Bezug auf den Beitritt der Ukraine zur EU immer nachsichtiger. Es hatte den Anschein, dass die Schlinge um den Hals der ungarischen Regierung enger gezogen wurde – was auch der Fall war – und dass Orbán gezwungen war, einen Rückzieher zu machen.
Aber jetzt stellt sich heraus, dass all dies, zusammen mit der Achtung des Handlungsspielraums, eine Art Vorbereitung für eine weitere Offensive im Zusammenhang mit der rotierenden Präsidentschaft war, die von Orbáns Kommunikation als «Friedensmission» bezeichnet wird. Es wird wohl nicht nötig sein, irgendjemandem zu beweisen, wie sehr dies in die ungarische außenpolitische Linie der letzten fast zwei Jahre passt und wie sehr es der aktuellen Politik des europäischen Mainstreams widerspricht.
Die Brüsseler Funktionäre (Russisch: Tschinovniki – чиновники) konnten sich also allenfalls einen Moment zurücklehnen – nachdem sie von Orbáns Kompromissgesten eingelullt worden waren – und gespannt auf den Auftakt der ungarischen Präsidentschaft warteten. Und wer Überraschungen und ein schwieriges halbes Jahr erwartet hatte, wurde nicht enttäuscht.
Unmittelbar nach der Übernahme der Präsidentschaft wagte der ungarische Ministerpräsident den Sprung und organisierte, wie sich herausstellte, einen Besuch in Kiew und anschließend in Moskau, um die Grenzen der ukrainischen und russischen Kompromissbereitschaft zu testen, indem er ein Ende des Krieges forderte. Und natürlich wäre es nicht Orbán, wenn das Ziel dieser beiden Reisen neben dem Friedensschluss nicht auch darin bestünde, die Grenzen zu verschieben, den Handlungsspielraum Ungarns zu erweitern und das Prestige des Landes und sein eigenes zu erhöhen.
Denn der ungarische Ministerpräsident ist sich durchaus bewusst, dass die rotierende EU-Ratspräsidentschaft kaum ein Mandat für solche Schritte gibt. Aber Orbán sagt auch, dass er nicht im Namen der EU verhandelt, sondern als ungarischer Ministerpräsident, und das macht die Situation für alle noch komplexer. Orbán geht also, wenn er legal handelt, wieder einmal bis zum Anschlag, rüttelt an den Begrenzungen und quetscht die Situation wie eine Zitrone aus.
In der einen Lesart ist das eine Maximierung des Potenzials, in der anderen ein Herumtrampeln auf dem EU-Amt. Diejenigen, die dies vorausgesehen haben, waren zu Recht der Meinung, dass Orbán in der gegenwärtigen Situation diesen sechsmonatigen Zeitraum, der bereits durch die Änderung der Amtszeit der EU aufgewertet wurde, nicht vergeuden wird, indem er sich auf technische Aufgaben und die zwischenstaatliche Koordinierung konzentriert. Aber sie haben schlecht auf die spektakulär gesteigerte diplomatische Aktivität des ungarischen Premierministers reagiert.
Dies, so ist hinzuzufügen, stört eindeutig den Seelenfrieden der EU-Staats- und Regierungschefs und zwingt nicht nur die aktuelle Verhandlungspartei, sondern auch Brüssel zu ständigen Reaktionen. Das wird üblicherweise von dem amtierenden Präsidenten nicht erwartet. Die Staats- und Regierungschefs der EU sind spürbar genervt von der Hyperaktivität Orbáns, und so machen sie eine Reihe von Fehlern, denn die ständigen Warnungen vor dem fehlenden Verhandlungsmandat werten Orbáns Wege ungewollt auf. Der ungarische Premierminister hat dies vermutlich vorausgesehen und richtig gehandelt, wenn er es in seine Strategie eingebaut hat.
Orbán hat bereits in den ersten Tagen seiner Präsidentschaft deutlich gemacht, dass er nicht einfach nur ein Vorsitzender an einem Ort sein wird, an dem er ohnehin nicht willkommen war, und er wird diese sechs Monate mit Inhalt füllen, wobei er penibel auf die Grenzen achten wird. Das ist sowohl im ungarischen als auch im europäischen Interesse.
Denn aus den bisherigen Reaktionen der westlichen Gesellschaften geht hervor, dass eine rasche Lösung des Konflikts in der Ukraine und ein Ende der intensiven Phase des Krieges im vitalen Interesse Europas liegen, auch wenn die Eliten das im Moment noch nicht so sehen. Ohne sie ist es sinnlos, über einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit zu reden, und auch die Sicherheit Europas ist jeden Tag stärker bedroht. Aber die Beendigung des Krieges – auch wenn das im Moment nicht offen ausgesprochen wird – liegt in gewissem Maße im Interesse der Ukraine und Russlands.
Deshalb rechnete Orbán damit, sowohl von Wolodymyr Selenskyj als auch von Wladimir Putin empfangen zu werden, trotz der für die Diplomatie ungewöhnlichen Spontaneität der Besuche. Es blieb also keine Zeit, die Wege zu entwirren und möglicherweise entgleisen zu lassen, und die externen Akteure mussten sich auf Orbáns Szenario einstellen. Der ukrainische Präsident konnte eine solche Reise nicht ablehnen, denn abgesehen von Malta und Zypern hatte nur Ungarns Spitzenpolitiker seit Ausbruch des Krieges Kiew nicht besucht.
Selenskyj konnte also vorzeigen, dass Orbán nun zu ihm gekommen sei, während der ungarische Premierminister diese Reise unter dem Deckmantel der EU-Präsidentschaft abhaken konnte. Es sei an dieser Stelle stillschweigend angemerkt, dass Brüssel keine Einwände dagegen hatte, dass Orban als amtierender EU-Präsident in Kiew empfangen wurde, während alle gegen die Besuche in Moskau und Aserbaidschan – letzterer zur Sitzung des Türkischen Rates – verzweifelt protestierten.
Doch Orbán tat nichts anderes als das, was führende europäische Politiker bereits hätten tun sollen. Aber um auf den Besuch in Kiew zurückzukommen: Er war nicht nur wichtig in Orbáns großem Spiel, sondern auch eine Gelegenheit, die brennenden Fragen der bilateralen Beziehungen zu erörtern. Schließlich haben sich die ungarisch-ukrainischen Beziehungen nicht erst mit dem Ausbruch des Krieges verschlechtert, sondern schon viel früher, spätestens mit der Verabschiedung des Bildungsgesetzes im Jahr 2017, das die Minderheitenrechte stark beschneidet.
Orbán konnte durchaus damit rechnen, nach seinem Besuch in Kiew in Moskau empfangen zu werden, ohne dass sie sich besonders darauf vorbereiten konnten. So ist es verständlich, dass er fast unmittelbar nach den Gesprächen mit Selenskyj den russischen Außenminister Sergej Lawrow anrief. Es war also keine Rede davon, dass er wie einst Moskau Bericht erstatten musste. Es ist auch klar, dass der ungarische Ministerpräsident keine Botschaft an den Kreml überbrachte. Weder von Selenskyj noch, wie manche glauben, von Donald Trump.
Es ist natürlich klar, dass dies ein weiterer guter Punkt für Trump sein könnte, der sich, sollte er gewählt werden, eindeutig auf China konzentrieren und pragmatisch die Intensität des Konflikts mit Russland zurückschalten würde. Das bedeutet natürlich nicht, dass Washington den Druck auf Moskau nicht aufrechterhalten wird, sondern dass sich die Prioritäten ändern werden.
In dieser Situation sind ungarische Gesten wie die jetzige notwendig, und sei es nur, weil die ungarisch-US-amerikanischen Beziehungen unter der Trump-Präsidentschaft keineswegs automatisch besser werden. Zumindest wird nicht Russland der Grund dafür sein, dass Washington die Schritte Budapests genau beobachtet.
Aber um auf die Reise nach Moskau zurückzukommen: Wladimir Putin hat mit Genugtuung konstatiert, dass der Präsident der EU im Kreml seine Aufwartung gemacht hat. Und diese Reise war ein weiteres Puzzlestück in Orbáns Spiel, das im besten Fall sogar zu einer ungarischen Vermittlung und einem Waffenstillstand führen könnte. Auch wenn es nicht wirklich von Ungarn abhängt.
Dieses Spiel setzte sich mit der Reise nach Peking fort, wo Orbán aus Aserbaidschan einflog. So schloss sich der Kreis, und der ungarische Ministerpräsident besuchte als amtierender Präsident einer der wichtigsten Institutionen des westlichen Blocks alle wichtigen Parteien, die an der Beendigung des Krieges beteiligt sein könnten, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten. Weiter reiste er zum historischen NATO-Gipfel nach Washington.
Dort konnte er sagen, dass er sich als einziger westlicher Politiker für den Frieden eingesetzt und alles gemacht hatte. Diese nicht nur spektakuläre, sondern auch informationsreiche Reise hat auch das Ansehen Orbáns in Ungarn im Vorfeld des NATO-Gipfels gestärkt, bei dem alle – wenn auch verbittert – anerkennen mussten, dass Orbán ein neues Niveau erreicht hat und man mit ihm rechnen muss.
Und als ob das noch nicht genug wäre, ging die Friedensmission mit der Gründung der souveränistischen Fraktion der «Patrioten für Europa» weiter. Dafür bedeuteten diese drei Besuche ebenfalls einen Prestigegewinn für den ungarischen Ministerpräsidenten. Es geht darum, dass die Patrioten die dritt- oder viertgrößte Parteienfamilie im Europäischen Parlament werden. Bis jetzt.
Das Projekt «Friedensmission» geht also weiter, und während der europäische Mainstream zunehmend nervös auf die Entwicklungen reagiert, fühlt sich Orbán mehr und mehr in seinem Element. Denn nach der Krise um den Fidesz-Begnadigungsfall und den damit verbundenen Aufgaben, dem in dieser Hinsicht entscheidenden Europawahlkampf und der relativen Stabilisierung der Parteiposition kann sich Orbán wieder auf globale Angelegenheiten konzentrieren. Das lässt die Brüsseler Elite nach den Wahlen nicht entspannen.
Auch wenn es keinen Durchbruch auf der rechten Seite gegeben hat, so ist die Tendenz doch eindeutig, und Orbáns Entschlossenheit wird wohl kaum nachlassen, solange seine Parteifamilie in europäischen Angelegenheiten mitreden kann. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass Ungarn bei der Beendigung des Krieges eine Rolle spielen wird. Wir werden sehen, aber es lohnt sich, die Warnung von Ungarns Außenminister Péter Szijjártó an die Vertreter des aktuellen westlichen Mainstreams zu bedenken: «Schnallt euch an!»
Aus dem Ungarischen übersetzte Éva Péli.
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Ez a kanadai hokiistennek, Wayne Gretzkynek tulajdonított, sokakat inspiráló mondat minden értelemben az előregondolkodás egyfajta metaforája, amit a #moszkvater is irányjelzőnek tekint.
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